02.03.2020
Wort zum Sonntag 02/2020

Füreinander da sein

Er weiß, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Seine Gedanken bringen ihn zurück in die Kindheit. Die Mutter las Geschichten vor und sang abends am Bett: „So legt euch denn ihr Brüder, in Gottes Namen nieder ... lass uns ruhig schlafen und unsern kranken Nachbarn auch“. Vater trug ihn auf den Schultern in der Ostkurve des Stadions. Fasching in der Grundschule, er als Indianer. Der Geschmack von Pfannkuchen und roter Brause. Mit den Freunden im Schwimmbad, heimlich nachts. Danach auf dem Heimweg, ihre Hand in seiner, ganz sacht. Der Klang der Nachtigall. Oben am Himmel der Mond.
Jetzt liegt er hier und kann nicht einschlafen. Wie lange noch? Ein paar Tage? Wochen? Ein halbes Jahr? Manchmal wünscht er sich, es wäre endlich vorbei. Die Schwester schaut herein und fragt, ob er Schmerzen hat. Im Moment nicht. Er ist dankbar für die Arbeit der Menschen im Hospiz. Sein Schulfreund war da, wie jede Woche. „Weißt du noch …“. Danach Schweigen, kein peinliches, sondern in stillem Einverständnis. Der Pfarrer liest einen Psalm: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir“. Morgen kommt sein Sohn mit der Enkelin. Er freut sich. Und hat ein bisschen Angst. Wird es das letzte Mal sein? Neulich hat sie ihm ein Bild mitgebracht: Opa und Enkelin im Garten unter einem Regenbogen. Meistens ist seine Frau da. Sie hält seine Hand, so wie damals. Dann ist er froh über die Zeit, die ihm noch geschenkt wird.
Am Mittwoch hat das Bundesverfassungsgericht über die Sterbehilfe geurteilt. Auch geschäftsmäßig darf jetzt Beihilfe geleistet werden. Es gibt auch andere Möglichkeiten, Gott sei Dank.

Thomas Groß, Kreisschulpfarrer